Dissertationsprojekt: Anti | Immersion. Eine kritisch-diskursive Annäherung an die ‚all-inclusiveness“ medialer Erfahrungsbegriffe (AT)
Betreuung: Prof. Dr. Lisa Gotto (Universität Wien), Prof. Dr. Julian Hanich (Universität Groningen)
In der zeitgenössischen Begeisterung für die immersiven Möglichkeiten medialer Erfahrung, in der der unmittelbare Kontakt zwischen Medium und Nutzer*in schier unabdingbar scheint, ist das Potenzial eines dazu gegenteiligen Prozesses in den Hintergrund gerückt: der Faktor der Distanznahme – oder gar: die Möglichkeit, sich diesen Erfahrungen zu verweigern. Mit der Betitelung ‚Anti | Immersion‘ wird mit dieser Arbeit ein neuer Zugang zum schier omnipotenten Erfahrungsbegriff der Immersion vorgeschlagen, der dem näheerzeugenden Prozess der Immersion die politisch motivierte Frage der gleichzeitigen Schaffung von Distanz angliedert.
Die Arbeit geht davon aus, dass sowohl die Vorstellung von Anti-Immersion als auch jene von Immersion als verinnerlichte und hochgradig polarisierende Glaubenssätze über Medienwirkungen auf Nutzer*innen ko-agieren: Sie polarisieren im Hinblick auf die gleichzeitigen Möglichkeiten, die Medien bieten, und im Anbetracht der Befürchtungen, die über die Wirksamkeit von Medien per se kursieren. Und es sind stets sowohl Anti-Immersionsvorstellungen als auch Immersionvorstellungen, die in unserem Denken und Sprechen über Medienwirkungen koexistieren. Das Projekt schlägt deshalb eine Analysemethode vor, die „Immersion“ stets in ihren ganz konkreten diskursiven Situiertheiten aufsucht und dabei fragt: Wer redet eigentlich warum, wann, wo, und im Bezug auf was oder wen darüber, dass eine Medienerfahrung immersiv „ist“? Denn: Warum ein Medium als immersiv erscheint, ist nicht nur von den Dispositionen der Nutzenden oder dem medialen Dispositiv abhängig, sondern auch davon, welche Ästhetiken Verwendungen finden, die wiederum auf Vorstellungen darüber basieren, wie Medien wirken sollen (oder nicht sollen). Dass dabei sowohl Anti-Immersion als auch Immersion als Diagnosebegriffe von Verhältnissen zwischen Nutzer*innen und Medien (und von Nutzer*innen untereinander) fungieren, legt die Arbeit im Heranziehen von Zuschauer*innenerfahrungen in ganz verschiedenen Mediensituationen offen.
Eine Fallstudie untersucht Erfahrungsberichte von Nutzer*innen des frühen deutschen Films/Kinos (1907-1912) und zeigt dort etwa, wie stark über Immersionserfahrungen (und dargestellte Immersionserfahrungen) Beschreibungsbegriffe entwickelt wurden, die heute noch zur Gesetzgebung im Umgang mit Medien beitragen. Und wie dort insbesondere Frauen, Kinder, Arbeitslose oder Migrant*innen als besonders ‚anfällig‘ für Immersionen verstanden wurden. Eine andere Fallstudie analysiert, was es überhaupt heißen kann, sich „dem Medium“ bzw. „der Medienerfahrung“ zu verweigern, insbesondere dort, wenn aus der Verweigerung eine Rückversicherung der eigenen Identität im Angesicht des Mediums entsteht. Eine dritte Fallstudie spürt Glaubenssätze über Medienwirkungen in sogenannten „Social Media Immersions“ im feministischen, belarussischen Videoaktivismus auf TikTok auf, wo Immersion und Anti-Immersion nicht nur als Wirkmechanismen von Algorithmen, sondern auch als ästhetische Gestaltungsformen und Nutzerbindungsprozesse bzw. Öffentlichkeitsformierungen angeeignet werden.
Die Arbeit rückt damit die ontologischen Diskussionen um „filmische“ bzw. „mediale“ Erfahrungen als „Kunsterfahrungen“ stärker in die Richtung der Frage nach dem längst koexistenten Ineinandergreifen von Ästhetischen Erfahrungen mit Alltagserfahrungen – bei gleichzeitiger Anerkennung der spezifischen Gerahmtheit (frame), die Medien in Bezug darauf mit sich bringen, wie sie uns als „Wirklichkeit“ und „Unwirklichkeit“ zugleich erscheinen. Für die Kritik an der bisherigen Begriffsbildung zur Immersion bedeutet das einerseits, vermeintlich selbsterklärende Begriffe des Sprechens über Medienerfahrungen zu hinterfragen. Es bedeutet aber auch – und hierin soll der zentrale Gewinn der Arbeit liegen – Medienerfahrungsbegriffe per se als politisch informierte (und nicht universal agierende) Sprechweisen der Verortung im Alltag und in den Lebenswelten der Nutzer*innen ernst zu nehmen.