HS. Fernsehformate: Ausstiegsfantasien. Entnetzung als Wunsch, Versprechen und Privileg
Dozent:innen: Laura Katharina Mücke M.A.Kurzname: HS Fernsehformate
Kurs-Nr.: 05.054.16_920
Kurstyp: Hauptseminar
Empfohlene Literatur
Stäheli, Urs. 2021. Soziologie der Entnetzung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.Inhalt
Die Aufforderung „Entnetzt Euch!" erklingt spätestens seit dem so lautenden Artikel von Urs Stäheli 2013 ziemlich prominent: Statt rechteckigen Augen vom Doomscrolling lieber in die Berge schauen, Urlaub mal nicht nach „instagrammability" planen, besser Präsenzlehre statt Zoom-Kacheln, ins Programmkino gehen statt auf Netflix streamen, beim Joggen auf den eigenen Puls als auf die Smartwach hören, Digital Detox-Seminare gegen ergonomische Bürosessel – der Wunsch, mal wieder irgendwo abseits der Bildschirme zu sein, ist eine lauter werdende Sehnsucht im Kontext zunehmend selbstverständlicher Mediennutzung. Ihm stehen die Versprechen aus Tech-Universen und dem Silicon Valley gegenüber, dass man digitale Räume maximal erweitern und online „room for everyone" (Zoomtopia conference 2021) bieten könnte, indem man Videokonferenz-Umgebungen mittels VR-Brille so intuitiv und 360° wie möglich gestaltet, Computerspiele hoch auflöst und ihre Bedienungs-Devices kleinteiligst kalibriert; man möchte komfortable Blended Learning-Umgebungen schaffen und digitale Medien überhaupt für alles nutzen, fürs Socializing, für 2G-Nachweise und Online-Banking, aber auch für Psychotherapien, Drohnenkämpfe und Cyber-Kriege. Dass "Vernetzung" und "Entnetzung" dabei auch diskursive (gesellschaftsbildende und damit Macht-) Phänomene sind, hat nicht zuletzt Wendy Chun mit ihrem Begriff der „Homophilie" beschrieben: Online-Öffentlichkeiten, die durch Algorithmen und Hashtagisierung gebildet werden, produzieren Einschluss, aber auch Ausschluss, wie etwa der Begriff des Cyber-Bullying im pädagogischen Kontext andeutet. Und auch Naomi Kleins im Kontext des ersten Lockdowns zurecht angeführte Erinnerung, dass es ein Privileg ist, überhaupt die Möglichkeit zu haben, das Handy mal auszuschalten, den PC einfach zuzuklappen und nicht erreichbar zu sein, ist zu berücksichtigen: Prekär Beschäftigte wie Lieferant*innen (Pakete, Rohstoffe, Lebensmittel etc.), Pfleger*innen, Portier*innen etc. müssen immer erreichbar sein, und im Krieg kann Unerreichbarkeit gar den Tod bedeuten. Auch der Neologismus FOMO (Fear of Missing Out), die Angst, etwas zu verpassen, spielt bei Fragen nach Online- und Offlineschaften eine Rolle – er verweist auf psychologische Konstellationen des Zwischenmenschlichen, die Ausstiegsfantasien speisen können. Gleichsam muss beachtet sein, dass das sogenannte Aussteigen in den allerseltensten Fällen tatsächlich eine vollkommene Entkopplung von vorherigen Kontexten bedeuten will und sein kann.In Urs Stähelis 2021 veröffentlichtem Buch „Soziologie der Entnetzung" ist kürzlich der theoretische Grundstein dafür gelegt worden, sich auch wissenschaftlich mit solchen Ausstiegsszenarien zu beschäftigen. Dieses will nicht Entnetzungs-Ratgeber sein, sondern in soziologisch-kulturwissenschaftlicher Manier den schon viel länger als die Digitalisierung existierenden theoretischen und gesellschaftlichen Spuren folgen, die bislang für das Stichwort Entnetzung 'eingesprungen' sind. Begriffe wie „Dissoziation" (Latour), „Anschlussunfähigkeit" (Luhmann), „Inkommunikabilität" (Deleuze), „Disartikulation" (Laclau/Mouffe) und „Indifferenz" (Simmel) interessieren ihn. Und er deutet darauf hin, dass es gar "Figuren der Entnetzung" gäbe, er untersucht etwa "den Schüchternen" oder "den Ladenhüter" als diskursives Phänomen, mithin das „Buffering" als Figur der Entnetzung. Für Stäheli ist die Entnetzung gleichsam analytisches Instrument von Gesellschaften und ästhetisches wie epistemisches Konstrukt zur Beschreibung der Verschränkung von Medien und Alltag im Allgemeinen.
Denn die Frage nach der Entnetzung ist nicht losgelöst zu betrachten von den medialen Konstellationen selbst, von Fragen danach, in welchen Kontexten uns digitale Umwelten heute begegnen, welchen Umgang mit ihnen wir schon seit Jahrzenten gelernt haben – welche Affordanzen also unseren Kompetenzen begegnen. Sie fragen insbesondere danach, welche theoretischen und praxeologischen Begriffe wir heute benutzen, um über Medienwirkungen zu sprechen.
Das Seminar stellt den Entnetzungsbegriff vorne an, um aus medien-, aber auch kunst- und kulturwissenschaftlicher Perspektive zum einen Phänomene und Diskursfelder der Entnetzung zu befragen. Diese Inhalte des Seminars sollen dabei stark von den Lebensrealitäten der Teilnehmenden bestimmbar sein: Selbstbefragungen, Experimente und Erfahrungsberichte bilden also das Zentrum des Kurses . Zum anderen stehen aber vor allem auch theoriespezifische Herangehensweisen auf dem Prüfstand, solche wie:
Was ist „das Netz" überhaupt: eine Teilöffentlichkeit? Ein gesellschaftliches System? Gibt es dort Innen und Außen? Verliert sich „die Realität" im Netz-Innen? Und bedeutet „Außen" wirklich „außerhalb" dieses Systems zu stehen?
Inwiefern fungiert Entnetzung als Wunsch vs. Versprechen? Als Mythos vs. Dystopie? Als geografisches Strukturelement? Als soziales Distinktionsmerkmal? Ist sie vollständig eine medial gefertigte Vorstellung?
Wie hängt der Wunsch nach Entnetzung mit Medialität also direkt zusammen: Mit den Lebensrealitäten des Reality TV? Mit dem Tagebuch als medialem Sehnsuchtsort? Mit den Bokeh-Filtern auf Instagram? Mit dem Dispositivbegriff im Allgemeinen? Mit ästhetischen Begriffen wie Schönheit und dem Erhabenen?
Mit welchen Begriffen und wissenschaftlichen Konstrukten sind entsprechende Versprechen/Wünsche also verknüpft? Welche Rolle spielt dabei unser Verständnis dessen, was "Medien" (oder gar "Kunst") sind, was "Fiktion" und "Realität", was "Praxis" und "Theorie", was "Öffentlichkeit" und "Individualität"?
Folgende Benotungen von Teilleistungen sind vorgesehen, die Teilnehmenden erhalten die Möglichkeit, sich mit ihren Kompetenzen die eigene Benotung entsprechend den Vorgaben zusammenzustellen:
Engagement im Kurs
Phänomenbasierte Gruppenarbeit mit Präsentation
Lesekarte und/oder Erfahrungsbericht
Seminararbeit
Termine
Datum (Wochentag) | Zeit | Ort |
---|---|---|
31.10.2022 (Montag) | 10:15 - 11:45 | 00 441 P10 1141 - Philosophisches Seminargebäude |
31.10.2022 (Montag) | 08:15 - 09:45 | 00 441 P10 1141 - Philosophisches Seminargebäude |
14.11.2022 (Montag) | 10:15 - 11:45 | 00 441 P10 1141 - Philosophisches Seminargebäude |
14.11.2022 (Montag) | 08:15 - 09:45 | 00 441 P10 1141 - Philosophisches Seminargebäude |
28.11.2022 (Montag) | 08:15 - 09:45 | 00 441 P10 1141 - Philosophisches Seminargebäude |
28.11.2022 (Montag) | 10:15 - 11:45 | 00 441 P10 1141 - Philosophisches Seminargebäude |
12.12.2022 (Montag) | 08:15 - 09:45 | 00 441 P10 1141 - Philosophisches Seminargebäude |
12.12.2022 (Montag) | 10:15 - 11:45 | 00 441 P10 1141 - Philosophisches Seminargebäude |
09.01.2023 (Montag) | 08:15 - 09:45 | 00 441 P10 1141 - Philosophisches Seminargebäude |
09.01.2023 (Montag) | 10:15 - 11:45 | 00 441 P10 1141 - Philosophisches Seminargebäude |
23.01.2023 (Montag) | 08:15 - 09:45 | 00 441 P10 1141 - Philosophisches Seminargebäude |
23.01.2023 (Montag) | 10:15 - 11:45 | 00 441 P10 1141 - Philosophisches Seminargebäude |
06.02.2023 (Montag) | 10:15 - 11:45 | 00 441 P10 1141 - Philosophisches Seminargebäude |
06.02.2023 (Montag) | 08:15 - 09:45 | 00 441 P10 1141 - Philosophisches Seminargebäude |